Was bleibt nach der Krise oder stecken wir noch mittendrin? Ein Gespräch mit Carl Illi und Peter Flückiger über die Erfahrungen in den vergangenen Monaten, neue Erkenntnisse und wie der Verband die Zukunft der Branche gemeinsam mit den Mitgliedern aktiv gestalten will.
Herr Illi, normalerweise würden Sie heute an der Generalversammlung zu den Mitgliedern sprechen. Was ist Ihre Botschaft an sie?
Dass es an jedem Einzelnen liegt, wie er der Veränderung begegnet und was er daraus macht. Jeder muss seine Weichen selbst stellen, selbst entscheiden, ob er den Mut hat, etwas Neues auszuprobieren oder nicht. Wir als Verband unterstützen die Firmen dort, wo man allein nicht weiterkommt. Wir setzen Impulse, vernetzen usw.
Unsere Branche ist sehr krisenerprobt und so habe ich auch die Mitglieder in den vergangenen Monaten erlebt: überlegt und trotzdem agil. Das «Heute» hat uns doch sehr stark vor Augen geführt, ob wir als Unternehmerinnen und Unternehmer in der Vergangenheit unsere Hausaufgaben gemacht haben oder nicht.
Wie war der Austausch mit den Mitgliedern in dieser Zeit?
Peter Flückiger: Normalerweise treffen wir uns mit den Mitgliedern in den Firmen, bei Veranstaltungen oder in thematischen Arbeitsgruppen und tauschen uns über aktuelle Themen aus. Das alles fiel im Lockdown komplett weg. Dennoch war die Interaktion grösser als je zuvor. Mein Team und ich waren permanent im Austausch mit den Mitgliedern. Aufgrund der komplett neuen und sich schnell verändernden Rechtslage hatten wir täglich mehrere Dutzend Anfragen zu Kurzarbeit, Schutzkonzepten, Normen für Schutztextilien oder Schwierigkeiten bei der Zollabfertigung. Gefreut hat mich, dass auch Firmen unsere Beratung und Informationen gesucht haben, die sich vorher wenig mit dem Verband auseinandergesetzt haben.
«Unsere Branche ist sehr krisenerprobt und so habe ich auch die Mitglieder in den vergangenen Monaten erlebt: überlegt und trotzdem agil.»
War es somit auch eine Chance für den Verband zu zeigen, was er den Mitgliedern eigentlich bringt?
Peter Flückiger: Ja, die Beratung ist eine Kerndienstleistung und wurde sehr stark in Anspruch genommen. Aber auch unser Info-Abo für die Mitglieder war ein zentrales Informationsinstrument. Wir haben viele Rückmeldungen erhalten, dass die Mitglieder es geschätzt haben, nach jedem Entscheid des Bundesrats konkrete Informationen zu erhalten, was nun zu tun ist. Zweitens haben wir intensiv Firmen miteinander vernetzt – auch branchenübergreifend –, um neue Lieferketten für Schutzmasken zu etablieren oder Lieferengpässe zu beheben.
Drittens ging es darum, dem Bundesrat und dem Parlament aufzuzeigen, dass ein kompletter Lockdown für unsere Branche verheerend gewesen wäre und wie wichtig unbürokratische Kurzarbeitsentschädigungen oder offene Märkte sind.
Carl Illi: Die Mitarbeitenden der Geschäftsstelle sind sehr gut vernetzt mit Akteuren aus anderen Verbänden, der Forschung, Verwaltung und Politik. Dieses Netzwerk wurde proaktiv angegangen und hat uns in vielen Themen sehr geholfen. Diese Krise hat einmal mehr gezeigt, dass ein Alleingang nichts bringt. Wir brauchen starke Verbündete. Die Branchenverbände haben in der Krise sicherlich beweisen können, was ihr Nutzen ist. Das zeigt auch, dass wir noch nie so viele Anfragen für Neumitgliedschaften erhalten haben wie in den letzten Monaten.
Direktor
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peter.flueckiger@swisstextiles.ch
«Uns geht es nicht darum, etwas um jeden Preis zu erhalten, sondern etwas zu gestalten.»
Trotz Krisenerfahrung der Branche kam es zu Schliessungen und
Stellenabbau verschiedener Firmen. Die Medien rufen dann schnell das
Ende der Textilindustrie aus. Was sagen Sie dazu?
Carl Illi:
Ich bedauere es sehr und es geht mir nahe, wenn Firmen mit so einer
langen Tradition schliessen oder Stellen abgebaut werden. Aber als
Unternehmer kann ich auch gut nachvollziehen, dass solche Entscheide
gefällt werden, wenn man für sein Geschäftsfeld einfach keine Zukunft
mehr sieht. Die Krise verdeutlicht uns doch einmal mehr: Der textile
Wandel findet statt und den können wir als Verband nicht aufhalten. So
hart es klingt, wir sind nicht für das Überleben der Firmen
verantwortlich oder für die Aufrechterhaltung einer Industrie, die es so
wie früher nicht mehr geben wird.
Peter Flückiger: Mir geht es da gleich. Unser Problem ist, dass das Bild der Branche in der Öffentlichkeit noch stark mit der Vergangenheit verbunden wird. Uns geht es nicht darum, etwas um jeden Preis zu erhalten, sondern etwas zu gestalten. Wir müssen ein neues Kapitel aufschlagen und zeigen, wer die Branche heute ist und welche Chancen sie für die Zukunft hat. Mit aktuellen Themen, die wir aufbringen, ich denke da unter anderem an Kreislaufwirtschaft, Blockchain oder Losgrösse 1, wollen wir die Mitglieder untereinander vernetzen und mit anderen Akteuren. So können wir Impulse geben.
Carl Illi: Ich muss dazu klar sagen: Wir sind nicht am Ende. Wir stehen an einem Neuanfang. Firmen, die unsere Branche ausmachen, sind diejenigen, die sich laufend neu erfinden. Es ist heute eine Bedingung als textiles Unternehmen, laufend neue Produkte und Märkte zu erschliessen, weil angestammte Geschäftsfelder sich so stark verändern. Wo es nur um den Preis geht, hat unsere Branche keine Berechtigung mehr. Wir sind Nischenplayer. Und da sehe ich viele Chancen und Perspektiven.
Es ist heute eine Bedingung als textiles Unternehmen, laufend neue Produkte und Märkte zu erschliessen, weil angestammte Geschäftsfelder sich so stark verändern.
Eine solche Chance ergab sich in der Krise auch mit dem
Innosuisse-Projekt Remask, in dem an der Schutzmaske der Zukunft
geforscht wird. Welche Rolle spielen da Mitglieder und Verband?
Peter Flückiger:
Ja, dieses Beispiel illustriert sehr gut, worum es in unserer Branche
geht. Über 40 Firmen arbeiten zusammen mit Forschungsinstituten an der
Weiterentwicklung von Gesichtsmasken. Hier geht es nicht darum,
Einwegmasken aus China zu kopieren, sondern Masken intelligent und dank
der Wiederverwendbarkeit auch nachhaltig zu machen und dabei unser
Know-how und die Expertise der Schweizer Industrie gepaart mit der
Forschung zu verbinden. Innert weniger Wochen ist es dank der bereits
vorher bestehenden, engen Kooperation mit der EMPA, der ETH und Swissmem
gelungen, ein von Innosuisse unterstütztes Forschungsprojekt auf die
Beine zu stellen.
Carl Illi: Unsere Vision ist es ja, die Schweiz als weltweit führendes textiles Kompetenzzentrum zu positionieren. Und dies zeigt dieses Beispiel hervorragend.
Trotzdem gibt es Forderungen, gerade aus der Politik, eine
vollständige Produktion von gewissen Gütern, darunter auch
Schutztextilien, in der Schweiz aufbauen zu wollen.
Peter Flückiger: Es
ist eine Illusion, dass wir von A bis Z solche Schutztextilien
herstellen können. Die textile Kette ist komplex. Das fängt schon bei
der Beschaffung der Rohstoffe und Zwischenprodukte an. Die Kosten in der
Schweiz sind hoch, weshalb die Herstellung sich auf
wertschöpfungsintensive Produkte fokussiert. Wichtiger als eine
nationale Industriepolitik, die ineffizient und teuer ist, sind
attraktive Rahmenbedingungen wie eine Absicherung des Freihandels, ein
flexibler Arbeitsmarkt sowie steuerliche Abzugsfähigkeit von
F&E-Aufwendungen.
Carl Illi: Hier macht die Politik eine falsche Schlussfolgerung. Unsere Branche ist global aufgestellt. Wir brauchen offene Märkte, denn wir sind zu 70 Prozent vom Export abhängig und im permanenten globalen Wettbewerb. Der Binnenmarkt Schweiz ist für den Grossteil unserer Mitglieder, die ja spezialisiert sind in ihren Nischen, einfach ein viel zu kleiner Markt.
Was kommt jetzt nach der Krise?
Carl Illi: Ich störe mich am Begriff «Neue Normalität». Denn für mich gibt es diese nicht. Wir müssen wirklich umdenken. Die Krise hat gezeigt, dass unser System, so wie es aufgebaut ist, nicht funktioniert. Immer mehr Wachstum auf Kosten der Ärmsten und Schwächsten kann nicht die Zukunft sein.
Sie sprechen die verheerenden Zustände in den Textilfabriken in Asien an?
Carl Illi: Hunderttausende von Wanderarbeitern haben aufgrund von Stornierungen der grossen Modelabels von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit verloren und waren dadurch unmittelbar in ihrer Existenz bedroht. Für Länder wie Bangladesch, wo das BIP zu 80 Prozent aus der Textilindustrie erwirtschaftet wird, eine Katastrophe.
Unsere Mitglieder können mit ihren textilen Lösungen globale Impulse setzen oder gar die Rolle eines «game changer» übernehmen.
Die Bilder gingen um die Welt. Nachhaltigkeit in der Modeindustrie war auf einmal wieder Thema. Glauben Sie, dass dieses Umdenken nun wirklich stattfindet und was kann die Schweizer Textilbranche tun? Wir sind ja nicht die Big Player im globalen Modegeschäft?
Peter Flückiger: Ich hoffe, dass ein Umdenken zu bewussterem Konsum stattfindet, aber sicher ist das bei Weitem nicht. In zwei Bereichen können wir auch als kleine Schweiz global etwas bewegen. Erstens politisch: Mit unserer Initiative Nachhaltige Textilien Schweiz versuchen wir gemeinsam mit dem Bund, amfori und Swiss Fair Trade das Thema nicht nur industriegerecht anzugehen, sondern vor allem auch international zu koordinieren. Zweitens können unsere Mitglieder mit ihren textilen Lösungen globale Impulse setzen oder gar die Rolle eines «game changer» übernehmen. Nicht mit Massenprodukten, aber mit intelligenten Lösungen. Beispielsweise giftfreie Chemikalien zur Veredlung, Kreislauf-Modelle, Traceability, Kompositwerkstoffe aus natürlichen Fasern usw.
Der Verband hat kurz vor dem Lockdown seine neue Strategie kommuniziert. Hat die Krise neue Erkenntnisse für deren Umsetzung gebracht?
Carl Illi: Die Krise hat den Weg, den wir eingeschlagen haben, bekräftigt. Die fünf Themen Wirtschaftspolitik, Nachhaltigkeit, Fachkräfte, Technologie und Design, die wir in unserer Strategie festgelegt haben, erweisen sich nach wie vor als DIE Themen, die für die Zukunft unserer Branche relevant sind. Es geht nun darum, dass wir unsere neue Strategie konsequent umsetzen. Das setzt auch voraus, dass wir an der Art und Weise, wie wir im Verband zusammenarbeiten und uns organisieren, noch Veränderungen vornehmen werden. Wir wollen die Mitglieder breiter und offener in die aktuellen Themen einbinden und flexibel und agil arbeiten. Da sind wir nun daran, ein neues Modell auszuarbeiten. Die nächsten Schritte in der Strategieumsetzung werden wir im Herbst kommunizieren.
Das Interview führte Mirjam Matti Gähwiler, Leiterin Kommunikation und PR bei Swiss Textiles.